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Mein Freund, dem ich die Familienzusammenführung nicht wünsche

Artwork: Mohammed khayata
Abdullah Al-Qasir, syrischer Autor, der in Deutschland lebt

Mein Freund, dem ich die Familienzusammenführung nicht wünsche

Der langersehnte Brief des Gerichts enthielt, als er endlich ankam, nicht mehr als eine Ablehnung. Mein Freund Louai Zariq aus Syrien hatte gegen den Status des subsidiären Schutzes Klage eingereicht. Dieser gewährt ihm ein Jahr lang Aufenthalt. Louai war selbst nicht mehr in der Lage den Brief zu öffnen, denn als dieser ankam befand er sich bereits im Stadium des klinischen Todes. Der zuständige Chirurg, der Loaui operiert hatte, nachdem bei ihm ein Gehirntumor festgestellt worden war, sagte, die Blutung sei nicht mehr zu stillen und, dass ihm nicht mehr als zwei Tage blieben, bis er dieser irdischen Welt abhanden kommen würde. Und tatsächlich vergingen kaum mehr als zwei Tage bis Louai, der auch “Abu Ali” genannt wurde, im Alter von 49 Jahren verstarb. Zu diesem Zeitpunkt hatte er zwei Jahre und vier Monate in Deutschland verbracht, in Halle an der Saale.

Sein erstes Jahr in Deutschland verbrachte er damit, auf einen Anhörungstermin zu warten. Er blieb während dieser Zeit ohne Aufenthaltstitel, während seine Frau und die beiden Kinder in Syrien geduldig ausharrten, bis es möglich sein würde, die ersten Schritte hin zu einer Familienzusammenführung zu unternehmen. Jedoch war das Ergebnis enttäuschend. Der subsidiäre Schutzstatus schnitt ihnen den Mut aus der Brust. Nun standen sie vor einer wichtigen Entscheidung: Einerseits könnte Louai zu ihnen nach Syrien zurückkehren. Er war, wie die meisten Migranten, auf dem Seeweg nach Europa gelangt, hatte die gefährliche Überfahrt überstanden und weite Strecken zu Fuß zurückgelegt. Wie in aller Welt würde dieser Mann nun nach Syrien zurückkehren wollen, nachdem er das Land verlassen hatte um seine Familie in Sicherheit zu bringen? Oder sollte er in Deutschland bleiben, in der Hoffnung gegen die ungerechte Entscheidung des Gerichts vorgehen zu können?

Die Entscheidung fiel Louai schwer. Er hatte bereits Bekanntschaft mit dem schleppenden Tempo bürokratischer Prozesse machen müssen. Letztlich entschied er sich zu bleiben um für sein Recht auf Familienzusammenführung zu kämpfen. Er begann den Deutschunterricht zu besuchen und nahm an zahlreichen sozialen Aktivitäten teil, die von Vereinen und Kirchengemeinden in Halle organisiert wurden. Viele kamen in den Genuss seiner Erfahrungen als Koch, hatte er doch damals in Syrien ein kleines Bistro betrieben hatte, in dem es Foul, Falafel und Fattah gab. Er fand Freunde, Deutsche und Menschen anderer Nationalitäten.
Eines Tages entschied er, den Ursachen seiner starken Kopfschmerzen, die ihn manchmal sogar das Bewusstsein verlieren ließen, auf den Grund zu gehen, und begab sich ins Krankenhaus.

Sein Arzt teilte ihm mit, die Analyseergebnisse und Röntgenbilder würden auf einen Gehirntumor hindeuten. Zur Abklärung des Verdachts müsse eine Gewebeprobe entnommen werden, ein Vorgang, der eine Schädelöffnung erfordern würde. Davor sei es jedoch notwendig, ihn über seine gesundheitliche Lage und die möglichen Komplikationen, die bei einer Operation auftreten könnten, aufzuklären. Danach müsse Louai der Operation schriftlich zustimmen.

Und wieder stand Louai vor einer wichtigen Entscheidung, die noch schwerer als die vorherige zu sein schien: Wenn sein Fall hoffnungslos sein sollte, dann würde er lieber in die Heimat fahren um seine Frau und Kinder vor seinem Tod noch einmal sehen zu können.

Er durchlebte sehr finstere Stunden. Wird bei einem Menschen, in Syrien und anderswo, eine schwere Krankheit diagnostiziert, so hofft er fast immer auf eine Chance, sich in Deutschland behandelt zu lassen. Deutschland hat ja bekanntlich einen sehr guten Ruf was Medizin angeht. Wie könnte er sich also gegen die Operation entscheiden? Wieso sollte ein schwerkranker Mensch, den das Schicksal nach Deutschland verschlagen hatte, zurück nach Syrien reisen, um sich dort behandeln zu lassen? Besonders jetzt, wo die medizinische Versorgung in Syrien aufgrund der Krisen schlechter denn je ist.

Am 31. Dezember 2017, dem letzten Tag des Jahres, sagte mir ein Verwandter Louais: “Mich hat gerade der Arzt angerufen. Er sagte, dass mein Onkel Abu Ali viel Blut verloren und nun das Stadium des klinischen Todes erreicht hat. Am selben Tag kam der Brief des Gerichts. Es ist eine Ablehnung.”

Ich weiß, dass kein direkter Zusammenhang zwischen der Ablehnung und der tödlichen Krankheit besteht, die Louai heimgesucht hat. Aber auf ihre Weise war auch die Ablehnung eine schmerzhaft und tödliche Krankheit, ein Krebsgeschwür, dass die Bürokratie und politisierte Gesetze im Körper seiner Familie hatten wuchern lassen. Der beschwerliche Weg, den mein Freund Louai auf sich genommen hatte, führte letztlich nirgendwohin – außer zu seinem Sterbebett.

Gestern erfuhr ich aus den Nachrichten, dass die Familienzusammenführung für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz auch über März 2018 hinaus ausgesetzt werden soll. Ich frage mich nun: Wie viel Schmerzen und Angst birgt der Abgrund, an dessen Rande so viele Geflüchtete stehen? Es erwartet sie ein unbekanntes Schicksal. Ein Schicksal das nichts mit dem zu tun hat, was sie sich wünschen oder erhoffen, sondern ein Weg des Schmerzes und der Katastrophe. So war es auch bei meinem Freund.

Heute, auf dem Weg zurück vom Friedhof auf dem Du begraben ist, Louai, ging mir ein Gedanke nicht mehr als dem Kopf: Nachdem die Familienzusammenführung im Diesseits nicht möglich war, wird sie hoffentlich auch im Jenseits noch lange auf sich warten lassen.

Ruhe in Frieden, Louai!

Übersetzung: Serra Al-Deen, Mahara-Kollektiv, aldeen@mahara-kollektiv.de

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