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Mein erstes Jahr als Flüchtling

Wie konnte dieses Jahr einfach so vorübergehen wie alle anderen? Ein Jahr des Grübelns, des Exils und der Entfremdung. Ein Jahr voll Heimweh und Sehnsucht und ganz ohne Normalität. An diesem Tag gibt es nur Raum für die Erinnerung. Die Erinnerung an Basmane, an diesen Hof in Izmir, wo alle Platz fanden. Die einen blieben am Leben und die anderen starben. Die einen konnten ihr Haupt auf Kissen betten, die anderen schliefen auf dem Bürgersteig oder in einem alten Hotel, das besser für Fliegen als für Menschen geeignet war. Die einen mussten sich mit Sandwiches begnügen, die anderen hatten genug Geld, um im Restaurant zu essen. Diese Ruhe machte gleichzeitig Raum für Sättigung und Angst.

Wir waren wie Tiere in einer Herde

Ein Auto, in dem viele Personen transportiert wurden, von denen einige vielleicht zum ersten Mal zu Gott beteten. Manche schrien wie Tiere in einer Herde, die sich damit abgefunden hatten, vorangetrieben zu werden ohne zu wissen, wohin die Reise ging. Ein Boot, auf dem die Passagiere routinemäßig terrorisiert und nicht willkommen geheißen wurden. Das war nur möglich, weil die Passagiere ohnehin schon verängstigt waren, seitdem sie sich zur Flucht entschieden hatten. Das Meer ist verräterisch: Das hört man jedes Mal, wenn vom ihm gesprochen wird. Weder das noch ein Freund, der mir gut zuredete, konnten mich dazu bringen, dem Meer zu vertrauen und die Angst zu überwinden, die umso stärker war, da ich nicht schwimmen konnte.

Neue Länder, neue Sprachen, neue Menschen, denen ich unterwegs und in meiner Phantasie begegnete. Flüchtige Eindrücke, die rasch vorüberzogen. Schnelle Enttäuschungen. Ich schüttelte den Kopf und sie verblichen. Seltsame Enttäuschungen, die in kurzer Zeit aus der Seele und dem Sinn verschwanden. Ein Flüchtlingsheim wie ein Gefängnis, aber ohne Ketten und ohne Gefängniswärter. Unbekanntes Essen zu festgelegten Zeiten, doch nie zu dem Zeitpunkt, an dem ich hungrig oder satt war, Appetit hatte oder nicht. So konnte ich nie vergessen, dass ich tatsächlich ein Flüchtling geworden war.

Eine zweite Heimat, in der alle fremd ist

Eine Geflüchtete, die sich nicht an die Sitten ihres Ersatzlandes gewöhnen kann, das wohl ihre zweite Heimat werden wird. Eine Geflüchtete, die allen fremd ist und der alles fremd ist: die Farbe der Haut, der Haare, der Sprache und der Seele. Jeden Morgen wacht sie auf und wiederholt in Gedanken, wie die Worte aneinandergereiht werden, falls sie einem Fremden begegnen sollte. Eine Geflüchtete, die Unterschiede entdeckt zwischen Dingen und Namen, Gesichtern und Farben, während der Vergleich für sie der einzige Weg ist, sich an ihre Heimat zu erinnern. Eine Geflüchtete, die versucht, einen guten Eindruck zu machen, erschöpft von den schlechten Eindrücken, die andere hinterlassen haben, die den Ruf einer ganzen Gruppe beschädigt haben, zu der auch sie gehört und die es nicht verdient hat.

Eine Geflüchtete, die Arbeit sucht, um nicht mehr nur Flüchtling zu sein, um von den Einheimischen nicht als jemand betrachtet zu werden, der in einem Land wohnt, das ihm nicht gehört, und Dinge in Anspruch nimmt, auf die er kein Recht hat. Eine Geflüchtete, die Sehnsucht und Heimweh über Status-Updates auf Facebook vermittelt, die Kommentare und Likes erhält, aber auch Missgunst. Deren Wirkung vergeht jedoch schnell, sodass sie wieder einsam ist. Hier kann sie die Sterne nicht sehen, weil der Sommerhimmel nicht so aussieht wie in ihrer Erinnerung. Sogar die Jahreszeiten kann sie alle innerhalb eines einzigen Tages erleben. Die Kälte des Winters ist viel zu kalt, der Herbst dauert viel zu lang, auch wenn die Vegetation immer grün bleibt. Sie sieht, dass die Bäume grün bleiben, ohne zu wissen warum.

Wir teilen nicht mehr als den täglichen Gruß

Ich habe lange überlegt, ob ich meinen Nachbarn zum Dank Blumen schenken sollte. Nicht weil sie mir ein Gefühl der Sicherheit gaben oder mich so behandelten, wie die Leute in meiner Heimat, sondern weil sie mir nicht ablehnend oder aggressiv entgegentraten. Mit den Leuten hier teile ich nicht mehr als den täglichen Gruß und ein künstliches Lächeln. Weder ich noch sie sind zufrieden mit meiner Anwesenheit. Das Lächeln ist nur eine gehobene Form der Heuchelei.

Als Geflüchtete bin ich wie eine Erstklässlerin in der Schule, die das Alphabet und die Wörter noch erlernen muss. Die mit ihren Klassenkameraden spielt und manchmal den Unterricht stört. Doch die Lehrerin schlägt mich nicht und schimpft mich nicht aus, weil ich eine erwachsene Geflüchtete bin, die in die erste Klasse geht und in weniger als einer Woche Fahrradfahren gelernt hat. In meinem ersten Jahr als Flüchtling bin ich in meinem dritten Lebensjahrzehnt. Die Vernichtung meiner Wünsche wird mich den Rest meines Lebens begleiten. In meinem ersten Jahr als Flüchtling machen mich meine Erinnerungen immer noch sehnsüchtig.

Dieser Artikel wird in Kooperation mit WDRforyou übersetzt und veröffentlicht.

EXILLITERATUR: Nemat Khaled

Auf dem Teller der Gesellschaft