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Auf dem Teller der Gesellschaft

Syrisches Restaurant an der Sonnenallee Foto: Guenthe – B.Z. Zeitung

In einer Studie für die Ryerson University in Toronto kommen Mustafa Koc und Jennifer Welsh zu dem Schluss, dass Essen mehr sei als bloße Nahrungsaufnahme. Es sei ein Grundelement unserer Kultur und eine wichtige Stütze unseres Identitätsgefühls, das sich entsprechend sozialer Gegebenheiten und unter dem Einfluss neuer Lebenserfahrungen herausbilde und ständig neue Formen annehme.

Unsere Identität entwickelt sich unter individuellen, kulturellen, historischen, sozialen und wirtschaftlichen Einflüssen, anhand derer wir entscheiden, welche Art von Nahrung wir zu uns nehmen. So wie andere kulturelle Verhaltensweisen auch vermittelt unser Speiseplan ein Bild davon, wie wir zu uns selbst stehen, wie wir unser Selbst ausdrücken und welche Distanz wir zwischen uns und anderen Menschen aufrechterhalten wollen.

Emigration und Essgewohnheiten

Ändern sich unsere Ernährungsgewohnheiten, verändern sich auch kulturelle Begrifflichkeiten und Verhaltensweisen. Emigration ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Wechsel an einen neuen Ort einen Mechanismus der Veränderung in Gang setzt. Er kann sowohl zur Akzeptanz als auch zur Ablehnung fremder Sitten, Praktiken und Erfahrungen führen. All das spiegelt sich in der körperlichen und geistigen Verfassung von Emigranten, in ihrer Selbstreflexion und ihrem Verhältnis anderen gegenüber wider. Für die Schaffung von Bedingungen, die Stabilisierung und Integration fördern, sind diese Mechanismen von großer Bedeutung.

Nahrungssicherheit für Neuankömmlinge bedeutet zuallererst, dass diese jederzeit Zugang zu qualitativ guter und quantitativ ausreichender Nahrung haben. Das mit Essen verbundene Gefühl des Wohlbehagens trägt maßgeblich zum Heimatgefühl bei. Letzteres manifestiert sich nicht allein in der Ernährung, sondern auch in der Möglichkeit, Grundbedürfnisse zu befriedigen. Es geht also auch um Chancengleichheit auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Gesundheitsfürsorge sowie beim Zugang zu Bildung und Sozialleistungen.

Nicht alle mögen Couscous…

Doch zurück zu den Ernährungsgewohnheiten: Es ist traurig zu sehen, wie schlecht das Essen in vielen Flüchtlingsunterkünften in Deutschland ist. Es wird oft von Angestellten und Freiwilligen zubereitet, denen die Kultur der Geflüchteten weitgehend unbekannt ist, sodass sie ihnen einheitliche Mahlzeiten vorsetzten, ohne kulturelle Unterschiede zu beachten. In manchen Fällen engagieren sie Köche aus Nordafrika, die ihr Nationalgericht Couscous kochen. Die meisten Menschen aus Syrien, dem Irak, Iran, Afghanistan oder Eritrea haben davon noch nie gehört. Auch passiert es regelmäßig, dass Geflüchtete Fleischstücke von ihrem Teller schieben, weil ihnen niemand sagen kann, ob das Fleisch „halal“ ist oder nicht.

Dass die Bewohner von Flüchtlingsunterkünften gezwungen sind, Gerichte zu essen, an deren Zubereitung sie nicht beteiligt sind, trägt zu Frustration und Unzufriedenheit bei. Ein Zugehörigkeitsgefühl wird nur entstehen, wenn Geflüchtete das Gefühl haben, hinsichtlich ihrer Essgewohnheiten willkommen zu sein. Wenn dies geschieht, entsteht auch der Wunsch, die einheimische Bevölkerung an der eigenen Kultur teilhaben zu lassen und sich ihr gegenüber zu öffnen, z.B. indem man sie zu einem selbst gekochten Essen einlädt.

Essen als gelebte Pluralität

Leider wird die Bedeutung internationaler Cuisines als Form der gelebten Pluralität in Großstädten wie Berlin, Paris oder Amsterdam gern unterschätzt. Ihr positiver Einfluss auf die Herausbildung eines Bewusstseins für kulturelle Vielfalt und auf die Ablehnung von Rassismus im Alltag wird oft übersehen. Die Musik anderer Menschen zu hören, sich für ihre Kleidung zu interessieren oder gemeinsam mit ihnen zu essen, ist unerlässlich für die Beseitigung kultureller Hindernisse. Sie machen Großstädte einfach bunter. Durch die Beobachtung der Essgewohnheiten einer bestimmten Zuwandererschicht können auch zahlreiche Schlussfolgerungen gezogen werden: Wie individualistisch sind diese Menschen? Suchen sie die Gemeinschaft? Wie sehr haben sie sich an die Aufnahmegesellschaft angepasst? Wie vielfältig ist ihre Kultur?

Das Gefühl, dazuzugehören und sich mit dem Gastgeberland zu identifizieren, kann sich nur dann einstellen, wenn Geflüchtete als vollwertige Angehörige der aufnehmenden Gesellschaft akzeptiert werden. In diesem Kontext sollte die Nahrungssicherheit an die Seite der anderen Grundrechte gestellt werden. Nur so können wir herausfinden, inwieweit Neuankömmlinge in der Lage sind, ihre kulturelle Identität neu zu erschaffen und sich erfolgreich zu integrieren.

Dieser Artikel wird in Kooperation mit WDRforyou übersetzt und veröffentlicht.

Mein erstes Jahr als Flüchtling

Neue Rechte, alte Zwänge