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Sie haben Beirut niedergebrannt

Sie haben Beirut niedergebrannt
Sie haben Beirut niedergebrannt / Hannah McKay/Reuters

Souad Abbas, Chefredakteurin

Die Explosionen im Hafen von Beirut haben die Seele der Stadt und seiner Bewohner gebrochen. Es ist eine Katastrophe, die über den Libanon hereingebrochen ist. Ein Land, das sich sowieso schon in einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise befindet, herbeigeführt von seinen korrupten Führern und ihren konfessionellen Seilschaften und Abhängigkeiten. Sie sind aktiv in die Konflikte der Region verwickelt und wegen der Macht der Hisbollah dem Iran ergeben. Seit Jahrzehnten geben sie sich mit dem konfessionellen Proporzsystem zufrieden. Es ist ein systemgewordenes Banditentum, das darauf beruht, die Reichtümer des Landes unter den Führern konfessioneller Banden aufzuteilen, ohne dass diese im Gegenzug auch nur die grundlegendsten Dienstleistungen für die Bevölkerung zur Verfügung stellen. Das Volk erhob sich und rebellierte gegen dieses System. Dann beendeten die Explosionen den kurzlebigen revolutionären Aufbruch und zerstörten innerhalb von Sekunden die Hauptstadt und den Hafen.

Nach den Explosionen in Beirut konnten die trauernden Mengen nicht lange der unverschämten Gewalt der Sicherheitskräfte standhalten. Die auf öffentlichen Plätzen errichteten Galgen, an denen Figuren der politischen Führer gehängt wurden, sind inzwischen entfernt. Für die Mengen blieben nur noch Beleidigungen und Schmähungen als einziger Akt des Widerstands. Diese richteten sich sogar gegen den Präsidenten der Republik und zerstörten damit die Idee der christlichen Führung. Schließlich erreichten sie auch “Seine Eminenz” (Hassan Nasrallah). Er sprach seine Drohungen offen aus, ohne mit der Wimper zu zucken angesichts all der Verbrechen, in denen er verwickelt ist – auch wenn die Beweise dafür noch unzureichend sind. Sie alle sind Verbrecher. Sie alle sind Mörder. Und “Seine Eminenz” ist der mächtigste unter ihnen und beschützt sie alle. Wahrscheinlich befehligt er sogar viele von ihnen direkt.

Die Ermittlungen haben zwar begonnen, aber wie könnten die Libanesen diesem Prozess vertrauen? Sie haben fünfzehn Jahre auf die Entscheidung des Sondertribunals für den Libanon gewartet, das den Mord an Rafiq al-Hariri in Beirut aufklären sollte. Wie könnten sie jemals wieder einem Gericht oder einem nationalen oder internationalen Tribunal vertrauen? Und nun sieht sich die Bevölkerung einer viel größeren Explosion mit mehr Opfern als die kleinere von damals gegenüber. Gleichzeitig grassiert eine tödliche Pandemie, der das heruntergekommene nationale Gesundheitssystem nichts entgegensetzen kann. All diese Katastrophen haben manche dazu gebracht, sich eine neue Mandatsmacht oder sogar einen klassischen Kolonisator herbeizusehnen. Aus ihrer Sicht kann eine solche Fremdherrschaft kaum schlimmer sein, als das was sie unter ihrer nationalen Führung erleben.

Die Führer der unschuldigen weißen Welt kamen mit ihren Millionen, um “die Libanesen zu retten”. Um ihnen in ihrem Land “zu helfen”, bevor ein neuer Exodus auf der Suche nach einem besseren Leben jenseits des Mittelmeers beginnt. Die weltweite Verachtung für die Führer des Libanon scheint ihnen nichts anhaben zu können. Sie zeigen sich weiterhin mit ernstem Gesichtsausdruck im Fernsehen. Die Fernsehsender ihrerseits sind damit beschäftigt, je nach Zugehörigkeit Verantwortliche zu beschuldigen oder zu entlasten.

Wohin werden die Libanesen auswandern? Wie bei jeder Fluchtwelle wird nicht allen die Flucht gelingen. Die Marginalisierten werden wohl im Land bleiben müssen, einem Land mit baufälligen Institutionen, denen sowohl die Infrastruktur als auch die Jugendlichen und Akademiker fehlen. Unter diesen Umständen erscheinen Reformen wie eine Illusion, an die nur Unwissende glauben können. Diejenigen, die den zwangsläufigen Niedergang der gesamten Region noch nicht realisiert haben. Was die syrischen Flüchtlinge im Libanon angeht, so müssen sie sich dort alleine ihrem grausamen Schicksal stellen. Nach Vertreibung und Diskriminierung steht ihnen jetzt Hunger und Kälte bevor. Die vertriebenen syrischen Familien in der Diaspora scheinen die Hoffnung in den Libanon als Ort einer zumindest vorübergehenden Wiedervereinigung mit ihren Liebsten verloren zu haben. Und die Menschen in Syrien selbst verloren mit der Zerstörung des Hafens von Beirut den letzten Zugang über Wasser.

Die Lage in der gesamten Region ist entsetzlich. Wie die Nachbarn Syrien und Irak befindet sich auch der Libanon in einer tiefen Krise. Viele Fragen sind noch offen: Wer wird diesmal die Kosten des Wiederaufbaus übernehmen? Wird es eine internationale Intervention geben und in welcher Form wird sie erfolgen? Welche Seiten werden davon profitieren? Europa und die USA haben bereits erklärt, dass sie es nicht zulassen werden, dass Hilfsgelder in den Taschen der Korrupten versickern. Wird es zu geheimen Vereinbarungen kommen, um ausgewählte Sündenböcke zu opfern und die eigentlichen Köpfe zu verschonen? Nach der Zerstörung Beiruts stellt sich aber vor allem die folgende Frage: Wird sich die Stadt wieder erholen, wenn sich die Libanesen nicht von den gegenseitigen Feindschaften frei machen können, die ihnen konfessionelle Führer, bezahlte Milizionäre und regionale und internationale Mächte einreden und einpflanzen? Diese Frage stellt sich nicht nur für den Libanon, sondern auch für Syrien und alle Länder der Region.

Übersetzung: Mohamed Boukayeo, Mahara-Kollektiv, boukayeo@mahara-kollektiv.de

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