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Ein neuer Exodus

Souad Abbas, Abwab Chefredakteurin

Während sich Präsident Erdogan anlässlich des Opferfestes mit Festtagsgrüßen an die Türkinnen und Türken wendete, widmete sich seine Regierung den Syrerinnen und Syrern im Land auf ihre ganz eigene Art und Weise: Sie ließ Tausende von ihnen abschieben. Weite Teile der türkischen Öffentlichkeit sind mittlerweile der „Flüchtlinge“ aus dem Nachbarland überdrüssig. Eine medial ausgeschlachtete Abschiebekampagne bot der Regierungspartei daher eine gute Gelegenheit, den Unmut in der Bevölkerung zu beschwichtigen, sie wieder auf ihre Seite zu ziehen und die eigene Position gegenüber der Opposition zu stärken.

Parallel dazu einigten sich Washington und Ankara vorläufig auf die Errichtung einer „Pufferzone“ auf syrischem Boden. Sie soll Ankaras Vorstellung nach dabei helfen, sich des Problems der syrischen Flüchtlinge durch Abschiebungen zu entledigen und die anvisierten demografischen Veränderungen in Syrien voranzutreiben. So will Ankara die kurdischen Autonomiebestrebungen untergraben, die in der Türkei seit jeher als Gefahr für die nationale Sicherheit empfunden werden.

Auch die Regierung des vermeintlich freundschaftlich gesonnenen Libanon entzieht sich auf ähnliche Weise der Verantwortung für die seit Jahren zunehmenden innenpolitischen Probleme und Krisen: Sie wälzt die Schuld für den wirtschaftlichen Niedergang des Landes auf die syrischen Flüchtlinge ab und behauptet, sie würden dem Tourismus schaden. Flankiert wird die Regierung dabei von identitätspolitischen Diskursen, die zusehends in den klassischen und sozialen Medien befeuert werden.

Nun sind die Abschiebegesetze nicht neu, bisher galten die syrischen Flüchtlinge in der Türkei allerdings als Gäste. Entsprechend haben sie auch keinen Flüchtlingsstatus inne, der ihnen auf Basis internationaler Verträge bestimmte Rechte zusichern würde, an erster Stelle das Abschiebeverbot. Dass die Gesetze, die Abschiebung vorschreiben, in der Vergangenheit nicht angewendet wurden, vermittelte den Syrerinnen und Syrern in der Türkei ein gewisses Maß an Vertrauen und Zuversicht. In der Annahme, es würde so bleiben, versuchten sie, sich in der Türkei einzurichten und einen Neuanfang zu wagen. Mit der plötzlichen Durchsetzung der Gesetze wurde aus ihrem Status als Gäste jedoch schnell eine Falle. Jetzt laufen die „Gäste“ Gefahr, jederzeit festgenommen und abgeschoben zu werden – auch wenn sie in Syrien der Willkür des Regimes und der anderen Konfliktparteien ausgesetzt sind und ihnen Haft oder Verschleppung droht.

Natürlich sind die Syrerinnen und Syrer nicht die Ersten, die sich in einer solchen Lage wiederfinden. Den Teufelskreis aus Krieg und Flucht mussten im Verlauf der Geschichte bereits Menschen aus aller Herren Länder durchleben. Manchmal wurden sie auch nach Jahrzehnten zwangsweise oder „freiwillig“ in ihre alte, per offiziellem Beschluss als sicher eingestufte Heimat zurückgeführt, wie zum Beispiel die besonders vom Schicksal gebeutelten Afghanen und Iraker.

Es ist nur eine Frage der Zeit bis weitere Gebiete auf dem Papier als sicher erklärt werden, damit sind umfangreichen Abschiebekampagnen Tür und Tor geöffnet. Zwar ist davon auszugehen, dass das Völkerrecht dabei zumindest formal weitestgehend eingehalten wird, faktisch geht es jedoch um die Umsetzung der in offiziellen und weniger offiziellen Deals getroffenen Vereinbarungen und die parteipolitische Positionierung im nationalen Wahlkampf.

Solange die geflüchteten Menschen selbst keinen politischen Einfluss haben, bleiben sie sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene politische Manövriermasse. Für das Schicksal der Geflüchteten bedeutet diese Machtlosigkeit auf politischer Ebene letztlich auch, jene Länder wieder verlassen zu müssen, von denen sie sich Sicherheit und Zuflucht erhofften hatten. 

Übersetzung: Thomas Heyne, Mahara-Kollektiv

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